Am 22. August 2013 konnte Michael von Albrecht, einer der bedeutendsten Latinisten des 20. Jahrhunderts, seinen 80. Geburtstag feiern. Dies ist ein bescheidener Versuch, sein Leben und Wirken, das er in den Dienst der antiken und ganz besonders der lateinischen Literatur gestellt hat, zu würdigen.

Geboren als Sohn des Komponisten und Hochschullehrers Georg von Albrecht und der Eurythmielehrerin Elisabeth Kratz absolvierte er in Paris und Tübingen ein Studium der Klassischen Philologie und Indologie. Zuvor hatte er bereits ein Studium an der Musikhochschule Stuttgart mit überragendem Erfolg abgeschlossen. Sehr bald folgte die Promotion in Tübingen über Ovid, der ihn seitdem nicht mehr losgelassen hat. («Die Parenthese in Ovids Metamorphosen und ihre dichterische Funktion», erschienen am 3. Juli 1959 in einer maschinenschriftlichen Ausgabe).

Nicht allzu lange danach schloss sich - ebenfalls in Tübingen - die Habilitation an mit einer Arbeit, die den neugierig machenden Titel «Freiheit und Gebundenheit römischer Epik: Studien zu Silius Italicus» erhielt. Dazu ermutigt wurde er von seinem akademischen Lehrer Ernst Zinn, dem er bis zu dessen Tod im Jahre 1990 eng verbunden blieb. Allerdings scheint ein solches Thema zu jener Zeit nicht ganz ohne Risiko gewesen zu sein. Gerade Silius´ Epos «Punica» war im zu Ende gehenden 19. und dann wieder im 20. Jahrhundert Gegenstand einer erbitterten akademischen Kontroverse, die sich über Jahrzehnte hinzog und zu Zerwürfnissen zwischen den akademischen Schulen führte. Es ist Michael von Albrechts großes Verdienst, mit der ihm eigenen wissenschaftlichen Akribie hier Gräben zugeschüttet zu haben, die andere Gelehrte aufgerissen hatten. In seinen späteren Arbeiten führten er und seine Schüler diese Untersuchungen fort. Von diesen Schülern sei nur Walter Kißel erwähnt, der 1979 mit seiner Heidelberger Dissertation «Das Geschichtsbild des Silius Italicus» nicht unbeachtet blieb. Auch ein weiterer seiner Heidelberger Schüler, Werner Schubert, hat sich in seinem Werk «Jupiter in den Epen der Flavierzeit» mit Silius Italicus intensiv befasst und damit in der akademischen Welt einiges Aufsehen erregt.

Aber bleiben wir bei Michael von Albrecht! Im geschichtlich bedeutsamen Jahr 1964 wurde er Ordinarius an der Universität Heidelberg. Dem Seminar im Marstallhof blieb er bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1998 treu. Es kann an dieser Stelle nur noch einmal wiederholt werden, was anlässlich des 90. Geburtstages eines Heidelberger Kollegen Michael von Albrechts in einer Würdigung an gleicher Stelle geschrieben wurde: Es waren goldene Jahre des Heidelberger Seminars für Klassische Philologie! Legendär waren von Albrechts akademische Lehrveranstaltungen, allen voran seine Vorlesungen. Immer hielt er sie dienstags ab und immer begannen sie um 11 Uhr c.t. mit einer schwungvollen lateinischen Einleitung! Nahezu jedesmal war der große Übungsraum überfüllt! Da waren nicht nur seine Studenten, zu denen er stets ein herzliches Verhältnis pflegte, sondern auch regelmäßig Gäste, darunter auffallend oft Ehemalige, die ihren akademischen Lehrer nach dem Examen nicht vergessen hatten.

Michael von Albrecht war und ist ein begnadeter Wissenschaftler. Das hinderte ihn aber nicht daran, sein Dienstzimmer zu verlassen und sich in eine ganz andere, für viele Gelehrte fremde Welt zu begeben - in die Welt der Schule! Oft prägte er - gerade in Nordbaden - mit seinen Vorträgen zur lateinischen Literatur Fortbildungsveranstaltungen für Gymnasiallehrer der Alten Sprachen. Auch war er sich nicht zu schade, an den regelmäßig im Frühjahr stattfindenden Vorbereitungsabenden für Lateinkursschüler der Oberstufe in Heidelberg und Karlsruhe teilzunehmen. Dabei informierte er nicht nur die Schüler in der ihm eigenen Weise über das lateinische Abiturthema, sondern stellte sich anschließend ihren Fragen. Wo findet man heute noch einen solchen Gelehrten?

Nach einer solchen Veranstaltung, an dem der Autor, ein ehemaliger Schüler Michael von Albrechts, mit seinem Lateinkurs 13 teilnahm, äußerte sich eine der anwesenden Schülerinnen zutiefst beeindruckt und meinte, bei einem solchen Professor würde sie auch gerne studieren. Ein schöneres Kompliment dürfte es wohl kaum geben.

Latein in der Schule liegt Michael von Albrecht ohnehin sehr am Herzen. Da wäre die lange und äußerst fruchtbare Zusammenarbeit mit seinen beiden Kollegen Wolfgang Klug († Dezember 2012) und Hans Joachim Glücklich zu erwähnen. Mit beiden Fachdidaktikern arbeitete von Albrecht in herausragender Weise zusammen und dies zum Nutzen unzähliger Lehramtsstudenten. Besonders glücklich konnte sich das Heidelberger Seminar für Klassische Philologie auch deswegen schätzen, weil mit den Herren Klug und Glücklich die Vertreter gleich zweier Bundesländer im Marstallhof tätig waren und für eine befruchtende Vielfalt an Lehrveranstaltungen sorgten. Prof. Klug war lange Jahre Fachabteilungsleiter für Alte Sprachen am renommierten Kurfürst-Friedrich-Gymnasium (KFG) in Heidelberg, Prof. Glücklich Fachleiter für Latein, seit 1980 auch für Griechisch am Studienseminar Mainz. Die von Michael von Albrecht oft scherzhaft an seine Studenten gerichtete Frage "Wollen Sie lieber glücklich oder klug werden?" ist übrigens keine Legende, sondern vielfach glaubhaft überliefert.

Viele der ehemaligen Schülerinnen und Schüler Michael von Albrechts nehmen heute in der lateinischen Fachdidaktik führende Positionen ein. Stellvertretend soll hier jedoch die am Friedrich-Schiller-Gymnasium Marbach tätige Ingvelde Scholz (1) erwähnt werden, die im Herbst 1983 ihr Latein- und Theologiestudium im Heidelberger Marstallhof begann und die man nach der zweifellos subjektiven Meinung des Verfassers als führende Persönlichkeit der aktuellen lateinischen Fachdidaktik bezeichnen muss.

Betrachtet man die Klassische Philologie des 20. Jahrhunderts, so ist festzuhalten, dass sie ohne Michael von Albrecht sehr viel ärmer gewesen wäre. Dessen wissenschaftliche Produktivität ist von überragender Bedeutung und hat die Forschung immer wieder entscheidend vorangebracht. Der Wandel, den man in der Ovidforschung seit den achtziger Jahren beobachten kann, ist ohne jede Frage auf von Albrechts kontinuierliche und seine das Werk des Dichters durchdringenden Arbeiten zurückzuführen. Der Verfasser dieses Beitrags bekam während der Schulzeit von seinem (übrigens hervorragenden!) Latein- und Griechischlehrer zu hören, dass Ovid bei den lateinischen Autoren - vorsichtig ausgedrückt - nicht die erste Wahl sei. Ovid habe erkannt, dass er sich mit dem großen Vergil nicht messen könne und sich deshalb in den Metamorphosen auf Kleinepen beschränken müsse. Er habe viel aus den unterschiedlichsten Quellen zusammengeschrieben (sic!) und ermüde oft durch seinen larmoyanten Ton. Mit letzterem war natürlich vor allem Ovids Exilliteratur gemeint.

Hier hat Michael von Albrecht, der große Ovidkenner, ein Umdenken bewirkt. Durch seine Forschungen hat er nachgewiesen, dass beispielsweise die Metamorphosen nicht ek­lek­tisch zusammengestückelt wurden, sondern eine Symbiose ganz spezieller Art miteinander eingehen und ganz eindeutig zur Weltliteratur gehören. Dass die Metamorphosen in den nächsten Jahren in verschiedenen Bundesländern (darunter in Baden-Württemberg) zum Lateinabitur gehören, ist zweifellos auch ein Verdienst der Untersuchungen des großen Heidelberger Gelehrten. Ganz gewiss darf man Michael von Albrecht als «Ovidianissimus» bezeichnen - wie es Hermann Wiegand in der Festschrift (2) tut, die er zusammen mit Reinhard Düchting zu Ehren des Octogenarius herausgegeben hat. Was wäre die Ovidforschung ohne Michael von Albrecht! 

Michael von Albrechts begeisternder Umgang mit der lateinischen Literatur steckte an. Viele seiner Schüler waren bzw. sind heute selbst an herausragender Stelle in den Altertumswissenschaften tätig. Hier muss man ganz besonders die im Dezember 2009 viel zu früh verstorbene Sabine Grebe (3) erwähnen, aber auch die bereits erwähnten Werner Schubert und Walter Kißel.

Sabine Grebe führte im kanadischen Guelph bis zu ihrem Tod vor allem die Erforschung der ovidischen Exilliteratur fort, so in ihrem 2010 postum erschienenen Artikel «Why did Ovid associate his exile with a living death?» (4)

Von Albrechts eigene Werke nehmen heute in Bibliotheken ganze Regalwände ein. Hiervon kann man sich in Universitäts- und Seminarbibliotheken, aber auch in nicht wenigen regionalen Büchereien überzeugen. Sein Buch über «Meister römischer Prosa: von Cato bis Apuleius» ist Legende und gilt als Standardliteratur, die erstens jeder Lateinstudent und zweitens jeder Lateinlehrer in seinem Bücherregal haben sollte. 2012 ist es in vierter (durchgesehener und bibliographisch korrigierter) Auflage erschienen. Sein Werk über die «Römische Poesie», zuerst 1971 bei Lothar Stiehm erschienen, ist nicht weniger bedeutend.

Die 1992 in erster Auflage erschienene und mittlerweile in mehrere Sprachen übersetzte «Geschichte der römischen Literatur» gehört zweifellos zur Spitze der wissenschaftlichen Weltliteratur. Es sei erlaubt, abschließend Hans-Albrecht Koch (5) mit seiner Rezension auszugsweise zu zitieren:

(Anfang des Zitats:)

"Es geht also doch noch: daß ein einzelner Gelehrter ein großes Werk zu einem großen Gegenstand hervorbringt, das sich von der universitätsüblichen Produktion der Sammelbände so unterscheidet wie ein Industriemöbel vom Schrank aus der Hand des Kunstschreiners. Freilich: es bedarf der langen Konzentration auf die "Hauptsache", eines immensen Fleißes und vor allem wohl auch eines ganz unzeitgemäßen Ethos, daß nämlich der Gelehrte in reiferen Jahren seinem Fach den großen Wurf schulde, statt nach der Karrierearbeit einer oft überzogen üppigen Habilitationsschrift die schöpferischen Kräfte allmählich in der Betreuung von Sammelbänden versiegen zu lassen."
(...)
"Nicht zuletzt der - gleichsam mit römischer perseverantia - durchgehaltenen Systematik ist es zu danken, daß die gewaltigen Stoffmassen so vor dem Leser ausgebreitet werden, daß er nirgendwo die Orientierung verliert. Schließlich noch dies: von der ersten bis zur letzten Seite ist das Buch in einer schönen, sich den Gegenständen fast musikalisch anschmiegenden Sprache geschrieben. Wer es nicht weiß, kann am Stil des Buches merken, welch ein begnadeter Musiker der Autor ist."
(...)
"Von Albrecht hat ein wahrhaft europäisches Buch geschrieben, das man sich auch in den Händen vieler Neuphilologen wünscht, denen es die römischen Wurzeln ihrer Gegenstände vermittelt."
(...)
"Für die Klassische Philologie liegt mit dieser Literaturgeschichte ein Hand- und Lehrbuch vor, dem Generationen von Studenten und Forschern für das Studium der römischen Literatur so verpflichtet sein werden, wie sie es für die Gräzistik der großen Geschichte der griechischen Literatur von Albin Lesky (...) seit langem sind." (Ende des Zitats.)

(Quelle: http://www.bsz-bw.de/depot/media/3400000/3421000/3421308/95_0091.html)

Diesen Worten ist nichts hinzuzufügen.

Möge der Jubilar noch viele Jahre im Kreise seiner Familie, seiner Freunde und Kollegen schöpferisch tätig sein!

(cip-w/IID-Bereichsgruppen Heidelberg und Tübingen 25.08.2013


Ergänzung: Nach einer solchen Würdigung erreichen die Redaktion immer wieder zahlreiche Nachfragen. Weitergehende Informationen zu den im Artikel angesprochenen Personen und Themen sind u.a. aus folgenden Quellen verfügbar:

1 Ingvelde Scholz, ehemalige Schülerin Michael von Albrechts, heute Studiendirektorin, Fachberaterin, Fachleiterin für Latein am Stuttgarter Seminar, Spezialistin für Hochbegabung und Autorin zahlreicher Veröffentlichungen

2 Aridus frugifer. Michael von Albrecht zum achtzigsten Geburtstag. Herausgegeben von Hermann Wiegand und Reinhard Düchting. Heidelberg 2013 (mit Beiträgen von Anna Elissa Radke, Hermann Wiegand, R. Joy Littlewood, Rüdiger Niehl, Heinz Scheible, Martin Korenjak, Reinhard Düchting und Hans-Joachim Zimmermann. (ISBN 978-3-86809-079-6, Mattes Verlag Heidelberg))

3 Nachruf auf Sabine Grebe († 13. Dezember 2009)

4 Class World 2010 Summer; 103(4):491-509

5 Vollständige Rezension der Geschichte der römischen Literatur.

   
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