Wir haben Latein nachgeholt -
ein Erlebnisbericht Betroffener

 

Hallo, liebe Leser,

wir haben noch etwas ganz Spezielles für Sie. Wir, das sind

• Christina Hofheinz, Anglistik-, Germanistik- und Sportstudentin,

• Hartmut Müller, Student der Philosophie, Geschichte und Allgemeinen Sprachwissenschaft,

• Julia Takano, sie studiert Musikwissenschaft, Kunstgeschichte und Romanistik,

sowie

• Andreas Deigelsberger mit den Studienfächern Geschichte, Sport und Deutsch.

Wir gehören zu der großen Gruppe von Studierenden, in der Schule kein Lateinunterricht hatten und deshalb an der Uni die Lateinkenntnisse erwerben mussten. Wir wollen Ihnen über unsere Erlebnisse berichten, damit nachfolgende Generationen nicht in eine ähnliche Lage wie wir geraten.

Was uns besonders an der ganzen Geschichte ärgert, ist die Tatsache, dass wir allesamt zu Schulzeiten von unseren Lehrern völlig falsch beraten wurden. Mit Ausnahme von Julia, die eine Spezialschule besucht hat, hätten wir ohne Ausnahme Latein an der Schule belegen und dort unser Latinum bekommen können.

Christina beispielsweise, die Deutsch und Englisch als Schul-Leistungskurse belegt hat, erhielt von ihrem Englisch-LK-Lehrer die Antwort, für ein Englischstudium sei grundsätzlich kein Latinum erforderlich. Diese Behauptung ist völlig falsch und besagter Lehrer gab mittlerweile auch zu, seinerzeit die Unwahrheit gesagt zu haben. Nur, was hatte er davon???

Noch ärgerlicher verlief es bei Hartmut: Er befragte sogar den Lateinlehrer seines kleinen Bruders und bekam die Auskunft für Geschichte und Philosophie sei schon lange kein Latein mehr vorgeschrieben. Dümmer geht es wirklich nicht. Wenn selbst ein Lateinlehrer nicht mehr Bescheid weiß, wer dann eigentlich? Gerade bei Geschichte und Philosophie ist dies besonders ärgerlich, da einige Universitäten für bestimmte Seminare auch Griechischkenntnisse fordern.

Julia und Andreas absolvierten eine Studienberatung des Arbeitsamtes, dort gab es wenigstens etwas bessere Auskünfte, aber dass für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft Latein zum großen Teil vorgeschrieben ist, wussten auch die Berater des Arbeitsamtes nicht.

Julia, die bereits in den Sommersemesterferien im Uni-Institut einige Dinge erledigen wollte, erlebte wohl den Schock ihres Lebens, als ihr eine fortgeschrittene Studentin mitteilte, dass sie für Anglistik im Magister-Studiengang (M.A.) unbedingt das Latinum nachweisen müsse.

Bei Andreas kam der Schock etwas später, nämlich in der Uni-Zulassungsstelle, wo eine freundliche Dame das Abiturzeugnis durchging und noch freundlicher nach dem Latinum fragte. „Ja, wenn Sie kein Latein haben, können wir Sie für Geschichte und Deutsch nicht einschreiben“, diesen Satz dürfte Andreas wohl sein Leben lang nicht mehr vergessen. Nach langem Hin- und Her erhielt er schließlich eine Sonderzulassung für ein Jahr, um an der Uni wenigstens Latein nachholen zu können.

Christina und Andreas dagegen erfuhren von ihrem Glück erst bei der obligatorischen Fachstudienberatung im Historischen bzw. Germanistischen Seminar. Dort wurde ihnen klipp und klar gesagt, dass sie spätestens bis zur Akademischen Zwischenprüfung die Lateinprüfung nachholen müssten. Ohne Latinum würden sie erst gar nicht zur Prüfung zugelassen. Hübsche Überraschung, nicht wahr?

Immerhin wurden sie aber von den Professoren auf die verschiedenen Möglichkeiten hingewiesen, wie man das Latinum nachholen könne.

• Universitätskurse
• Kurse an Privatschulen (wobei es im konkreten Fall sogar zwei mögliche Privateinrichtungen gab).

Nach dem ersten Schock gleich ein zweiter: Wir hatten uns alle dazu entschlossen, die Lateinkurse an der Uni zu belegen. Diese wurden von dem zur Universität gehörenden Institut für Klassische Philologie angeboten. Als wir dahin kamen, mussten wir feststellen, dass die Anmeldelisten offenbar schon Wochen zuvor ausgehängt worden waren. Keine Liste, auf der nicht bereits 70 und mehr Namen standen! Einige waren wegen Überfüllung bereits gesperrt. Was nun? Ohne Eintrag konnte man die Kurse nicht besuchen.

Es blieb uns nichts anderes übrig, als uns zu den völlig überfüllten Kursen anzumelden. Die Anfängerkurse fanden zweimal in der Woche je zwei Stunden statt. Als wir uns wenige Tage später in dem betreffenden Uni-Hörsaal trafen, mussten wir feststellen, dass sich weit mehr als die angemeldeten Teilnehmer eingefunden hatten. Insgesamt waren unserer Schätzung nach um die 100 Studierende anwesend.

Der Dozent, der im übrigen sehr nett war, stellte nach der Begrüßung sofort klar, dass einiges auf uns zukommen werde. Er nannte uns die benötigten Lehrbücher, Grammatiken und Wortkunden und forderte uns auf, diese schnellstmöglich zu besorgen. Dabei erwies es sich als vorteilhaft, dass das betreffende Uni-Institut bereits die Buchhändler darauf hingewiesen hatte, dass mehrere hundert Bestellungen bestimmter Schulbücher eintreffen würden. Die Buchhandlungen waren jedenfalls auf unseren Ansturm vorbereitet.

Wir dachten zunächst, der Kursleiter sei nicht ganz bei Trost, als er erklärte, wir müssten pro Tag zusätzlich zu den Sitzungen etwa sechs Stunden häuslicher Arbeit einplanen.

Leider hat sich diese Aussage voll bewahrheitet. Im Laufe des Semesters ging diese Arbeitsbelastung sogar noch deutlich nach oben und einige saßen 8 - 9 Stunden täglich über ihren Aufgaben.

Die Sitzungen liefen meistens dergestalt ab, dass wir ein bestimmtes grammatikalisches Problem behandelten und danach in die Übersetzung lateinischer Einzelsätze eingeweiht wurden. Es versteht sich von selbst, dass Fragen an den Dozenten nur in Ausnahmefällen möglich waren. Dennoch möchten wir allen unseren Lateindozenten ein sehr großes Kompliment machen. Trotz der angespannten Situation und des immensen Zeitdrucks bemühten sie sich sehr, auf unsere Probleme einzugehen und uns ein wenig an der antiken Kultur teilhaben zu lassen. 

Hausaufgaben bekamen wir sehr viele auf. Zunächst war der neue Grammatikstoff zu lernen. Davon abgeleitet mussten wir von Sitzung zu Sitzung zahlreiche Übungen durcharbeiten und Texte übersetzen. Für viele der Teilnehmer waren die Vokabeln das Schlimmste . Am Schluss des Anfängerkurses wird die Kenntnis von 1600 bis 1800 Vokabeln vorausgesetzt. Dies bedeutet, dass von Sitzung zu Sitzung mindestens 40 Vokabeln gelernt werden müssen. Dazu kommen in einem späteren Stadium die sogenannten Stammzeiten, die vor allem bei unregelmäßigen Verben von größter Bedeutung sind. Leider erlagen viele der Teilnehmer dem Irrtum, man müsse die Vokabeln nur einmal lernen. Richtig ist vielmehr, dass die Vokabeln, wie bei modernen Fremdsprachen auch, häufig wiederholt werden müssen.

Klausuren wurden zwei geschrieben, eine Mittel- und eine Schlussklausur. Die Noten beider wurden zusammengerechnet und am Ende musste man mindestens „4“ (ausreichend) erreicht haben. Ohne diese Note wurde man im Folgekurs nicht aufgenommen.

Höchst interessant war im übrigen die enorme Fluktuation. Nach der Zwischenklausur war die Teilnehmerzahl um rund 1/3 geschrumpft, die Abschlussklausur traten dann gerade mal 50 % der ursprünglich Angetretenen an. Was aus dem Rest wurde, entzieht sich unserer Kenntnis. Die Abschlussklausur selbst war sehr anspruchsvoll und wer im Kurs nicht gut mitgearbeitet hatte, konnte sie vergessen.

In den folgenden Semesterferien gab es nur sehr wenig Pause; wir alle mussten den im Anfängerkurs behandelten Stoff gründlich wiederholen. (Zwei bis drei Wochen Erholungsurlaub waren allerdings schon drin).

Im nächsten Semester folgte der Fortgeschrittenenkurs, den nur die besuchen durften, die im ersten Kurs mindestens „4“ erreicht hatten. Für alle anderen gab es die Möglichkeit einer „Nachklausur“. Wer diese bestand, durfte ebenfalls den Kurs II besuchen.

In diesem Kurs lag der Schwerpunkt auf Übersetzen. Behandelt wurden verschiedene Reden Ciceros. Der Schwerpunkt lag auf den „Orationes in C. Verrem“. Wir durften unseren Wortschatz noch einmal erheblich erweitern, da das Vokabular des Übungsbuches vom Anfängerkurs natürlich nicht ausreichte. Grammatik wurde jetzt entsprechend ihrem Vorkommen in der Lektüre behandelt. Dazu kam jetzt reichlich Interpretation sowie die Behandlung der bei Cicero häufig vorkommenden Stilmittel. Arbeitszeit auch in diesem Kurs: 6-8 Stunden täglich.

Auch hier gab es wieder zwei Klausuren, deren Gesamtergebnis mindestens „4“ sein musste. Diese „4“ war übrigens auch die Voraussetzung, um über die Universität zur Prüfung angemeldet zu werden. Der interessantere der beiden Kurse war zweifellos dieser Kurs. Während es im ersten Kurs vorwiegend Grammatik und Vokabeln zu lernen gab (siehe oben !), erhielten die Teilnehmer hier einen sehr guten Einblick in die spezifisch römische Kultur.

Gegen Ende des Kurses verteilte der Kursleiter an diejenigen, die den Kurs mit wenigstens der Note „4“ abgeschlossen hatten, die Anmeldebögen für die Abschlussprüfung. Wer wollte, konnte sich über die Uni anmelden und wurde dann in der mündlichen Prüfung vom Kursleiter geprüft. Alle anderen konnten sich auf eigenes Risiko selbst anmelden. Diese mussten sich dann von fremden Prüfern auf den Zahn fühlen lassen.

Was soll man zur schriftlichen Prüfung sagen? Sie war sehr schwer und dies, obwohl wir ein Wörterbuch verwenden durften. Bei der Prüfung zeigte es sich, dass dieses Wörterbuch nur bei Spezialausdrücken oder gelegentlichen „Blackouts“ von Nutzen ist. 95% der Wörter muss man im Gedächtnis haben, sonst verliert man beim Nachschlagen extrem viel Zeit und wird mit der Klausur nicht fertig. 30-40% der mit uns zur Prüfung Angetretenen fiel beim schriftlichen Examen durch und davon mehr als die Hälfte, weil diese Teilnehmer zu lange im Wörterbuch suchten.

Bei der mündlichen Prüfung durfte man das Wörterbuch erst gar nicht verwenden. Hier wurde man am Tag der Prüfung in einen Raum geführt, bekam seinen Text, der aus etwa 55-70 Wörtern bestand und durfte diesen 15 Minuten unter Aufsicht, aber ohne Wörterbuch bzw. sonstige Hilfsmittel vorbereiten.

Die Prüfung dauerte etwa 20 Minuten und war für viele schlimm. Die Prüfungskommission (bestehend aus drei Damen und Herren) war auch sehr höflich, konnte uns aber in vielen Fällen nicht helfen, da jede direkte Hilfe von Seiten der Prüfer als Fehler gewertet werden muss. Zunächst mussten wir übersetzen, dann Fragen zur Grammatik zum Stil und Text beantworten. Das war für viele nicht leicht!

Wir vier haben jetzt alle Latinumsprüfungen hinter uns; Hartmut und Julia legten sogar ein Semester später die viel schwerere Prüfung zum Großen Latinum erfolgreich ab.

Aber vielleicht verstehen Sie, liebe Leser, uns jetzt etwas besser, wenn wir allen, die ein geisteswissenschaftliches Fach studieren wollen, dringend raten, Latein in der Schule zu lernen! Die Uni- und Privatkurse können nur ein Notbehelf sein - mit entsprechenden Folgen. Und Latein ist für zahlreiche Fächer unbedingt notwendig. Es bringt für das Fachstudium großen Nutzen!

Lassen Sie es sich gesagt sein: Latein lernt man an der Schule sehr viel bequemer und einfacher als an der Uni. Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie wir und erwerben Sie die notwendigen Lateinkenntnisse an der Schule. Es lohnt sich in jedem Fall!

Mit freundlichen Grüßen
Christina Hofheinz, Hartmut Müller, Julia Takano, Andreas Deigelsberger


   
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